V. Fracheboud: L’introduction de l’assurance invalidité en Suisse

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Titel
L’introduction de l’assurance invalidité en Suisse. Tensions au cœur de l’état social


Autor(en)
Fracheboud, Virgine
Erschienen
Lausanne 2015: Editions Antipodes
Anzahl Seiten
214 S.
von
Matthias Ruoss

Vor der Einführung der Invalidenversicherung (IV) 1960 war die Anzahl invalider Personen in der Schweiz nicht bekannt. Zwar hatten private Vereinigungen und gemeinnützige Organisationen bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche Enqueten und Erhebungen durchgeführt, die allerdings lokal begrenzt waren oder auf Schätzungen beruhten. Dass wir auch heute noch nicht wissen, wie viele Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts invalid waren, hat nicht nur mit dem Umstand zu tun, dass Invalidität schwer und historisch unterschiedlich definierbar ist. Vielmehr, und das zeigt die aus einer Masterarbeit hervorgegangene Studie von Virgine Frachebourd eindrücklich, ist das Fehlen von grossangelegten statistischen Untersuchungen ein Indiz für das ekl tante Desinteresse der Bundespolitik und der eidgenössischen Behörden an den vielfach prekären Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen. Wer aufgrund eines Geburtsgebrechens, eines Unfalls oder einer Krankheit invalid geworden war und keiner Erwerbstätigkeit (mehr) nachgehen konnte, musste bis 1960 auf familiäre Hilfe, gemeinnützige Fürsorge oder öffentliche Armenunterstützung hoffen. Auch die Militärversicherung und die Unfallversicherung sowie die vielen Pensionskassen hatten nur eine begrenzte soziale Reichweite und boten nur wenig Schutz im Invaliditätsfall. Bis 1950 existierte nur im Kanton Glarus eine Invalidenversicherung mit allgemeiner Versicherungspflicht.

Warum die IV im internationalen Vergleich so spät eingeführt wurde, legt Virgine Frachebourd im ersten Teil (Kapitel 1 und 3) ihrer Arbeit kenntnisreich dar. Frachebourd nennt eine Reihe von Gründen, welche die verzögerte Sozialstaatsentwicklung erklären. Zu Recht misst sie dem stark bürgerlich geprägten und finanzrestriktiven politischen Milieu der Zwischenkriegszeit, das generell wenig Interesse am Auf- und Ausbau eines umfassenden Systems sozialer Sicherheit bekundete, grosse Bedeutung zu. Sowohl die bürgerlichen Parteien als auch der bis 1943 ausschliesslich aus bürgerlichen Politikern bestehende Bundesrat favorisierten eine dezentrale Lösung: Statt einer als Sozialversicherung konzipierten zentralstaatlichen Einrichtung, wie sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von der Arbeiterbewegung und linken Parteien gefordert wurde, unterstützten sie private Heime für Menschen mit Behinderungen und Hilfsorganisationen mit Subventionen. Hinzu kam, dass sie die Einführung anderer Sozialversicherungszweige priorisierten, allen voran die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Weiter erhielt das Projekt einer IV auch von gemeinnützigen Organisationen wenig Unterstützung. Auch die 1920 gegründete Schweizerische Vereinigung für Anormale (seit 1935 «Pro Infirmis» genannt) sah in einer staatlichen Sozialversicherung bis in die 1940er Jahre eine Konkurrenz für das von ihr mitgetragene und über private Spenden und Bundesgelder (ab 1923) finanzierte gemeinnützige Fürsorgesystem. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern, in denen sich Kriegsinvalide nach dem Ersten Weltkrieg zu starken Selbsthilfegruppen zusammenschlossen, gründeten Menschen mit Behinderungen in der Schweiz erst 1930 mit dem Schweizerischen Invaliden-Verband die erste zivilgesellschaftliche Lobbyorganisation, die für die Einführung einer IV kämpfte.

Im zweiten Teil (Kapitel 4 bis 6) der Studie befasst sich Frachebourd mit der Frage, wie es schliesslich Mitte der 1950er Jahre zu einem «retournement complet» (S. 69) kam. Vorausgegangen waren zwei im Frühjahr 1955 eingereichte Volksinitiativen der Partei der Arbeit und der SPS, welche die Einführung der IV forderten. Abgesehen davon, dass die Vorstösse die IV auf die sozialpolitische Agenda setzten, verlangten sie die Ausgestaltung der Versicherung nach dem Prinzip «Eingliederung vor Rente». Dieses Prinzip sah neben Versicherungsleistungen in Form von Renten auch medizinische und berufliche Massnahmen zur Arbeitsmarkintegration vor. Während die Linke zusammen mit den Behindertenorganisationen damit die soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Wachstums- und Wohlfahrtsgesellschaft der Nachkriegszeit fördern wollte, unterstützten die bürgerlichen Parteien und die Arbeitgeberverbände das Prinzip aus Kostengründen. Laut Frachebourd war weiter entscheidend, dass es den wirtschaftsnahen Kreisen gelang, ein äusserst minimalistisches Finanzierungsmodell (tiefe Lohnbeiträge, nicht existenzsichernde Renten ) durchzusetzen, das sich im Wesentlichen an dasjenige der AHV und der Erwerbsersatzordnung (EO) anlehnte. Übernommen wurde zudem das Ausgleichskassensystem. Die AHV-Ausgleichskassen, die mehrheitlich von den Arbeitgeberorganisationen geführt wurden, sollten auch für die Erhebung der IV-Beiträge sowie für Entscheide über Leistungen und deren Auszahlung zuständig sein. Insgesamt führte dieses komplexe Zusammenspiel von sozialpolitischen Forderungen und Gerechtigkeitsüberlegungen auf der einen Seite und Finanzkalkülen und wirtschaftlichen Interessen auf der anderen dazu, dass das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung auf einen breiten politischen Konsens bauen konnte und 1960 ohne Referendumsabstimmung in Kraft trat.

Virgine Frachebourd ist eine differenzierte und sprachlich gelungene politikhistorische Studie über die Einführung der IV in der Schweiz gelungen. Überzeugend schafft sie es, die langjährigen und sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs intensivierenden Versicherungsdebatten nachzuzeichnen und in einen internationalen Kontext einzuordnen. Dadurch werden nicht nur die sich verändernden politischen Konstellationen und harten Interessenkonflikte sichtbar, die für die langsame Sozialstaatsentwicklung in der Schweiz verantwortlich sind. Auch wird deutlich, wie eng die Einführung und Ausgestaltung der IV mit den sozialpolitischen Debatten um den Ausbau der AHV und die Finanzierung der EO zusammenhing.

Zu kritisieren bleibt zum Schluss ein Punkt, der im Übrigen für die gesamte Sozialstaatsgeschichte gilt. Weder in Frachebourds Studie noch in vielen anderen Arbeiten zum Sozialstaat kommen die Betroffenen vor. Einmal mehr wird damit eine (Vor-)Geschichte eines sozialen Sicherungssystems ohne die Menschen erzählt, die bis 1960 unter der sozialen Unsicherheit litten und danach von der IV profitieren ( oder eben auch nicht ). Es wäre zu begrüssen, wenn die historische Forschung sich in Zukunft stärker mit den geschlechts- und schichtspezifischen Lebensrealitäten von Risikogruppen vor und vor allem nach der Einführung sozialstaatlicher Einrichtungen auseinandersetzen würde. Nur so kann sie dazu beitragen, die Fortschrittserzählung zu differenzieren, welche den sozialpolitischen Debatten so eigen ist und welche die Sozialstaatsgeschichte nicht selten mitträgt.

Zitierweise:
Matthias Ruoss: Rezension zu: Virgine Fracheboud: L’introduction de l’assurance invalidité en Suisse. Tensions au cœur de l’état social, Lausanne: Éditions Antipodes, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 419-421.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 419-421.

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